Friday, July 20, 2012

Jürgen Beckers "Scheunen im Gelände", ein Korrespondenzbuch kühn auch an Rändern des Daseins: Text - Bild und Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft

 "Was man liegen läßt, im Vorbeigehen, später / stellt sich heraus / es war ein Versäumnis, vielleicht. / Sicher kann man sich nie sein, / auch wenn Zivilisten aussehen wie Zivilisten..." // (Umleitung Soltau-Ost)"

 In der Reihe Lyrik Kabinett München ist soeben der Gedichtband "Scheunen im Gelände" von Jürgen Becker erschienen. Ein weißes Buch, das in Karton aus zwei Farbfeldern, blau und rot, gebunden ist. Darauf silbrigweiße Typografie.
In seinem Nachwort dazu erinnert Michael Krüger bezogen auf Beckers Lyrik an Hugo von Hofmannsthals Vortrag "Poesie und Leben" aus dem Jahr 1896 und dabei an dessen Satz: "Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für die Seele."
"Scheunen im Gelände" dokumentiert autobiografisch Gefärbtes des 80-jährigen Becker, der über 40-jährige Erfahrung im Umgang mit Lyrik hat. Und die künstlerische Avantgarde der 50er Jahre mit Stockhausen, Kagel, Vostell und anderen kannte und in den 60ern zur Gruppe 47 eingeladen wurde. Becker war auch zeitweilig Lektor, Verlags- und Hörspielleiter. Hinsichtlich der Bedeutung der Vergangenheit hält Becker das Schreiben für einen „archäologischen“ Vorgang. Es gehe darum, verschüttete Erinnerungen hervorzuholen. Eigene und beim Leser. Eine der Stärken dieses Lyrikers beschreibt Krüger aber so: Seine Gedichte "bleiben über die Zeit hinweg offen." Genau in der Fähigkeit im Bewusstseinsvorgang Schreiben eine Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen und zu präsentieren liegt eine Qualität.
Die Gedichte in dem Buch sind inspiriert und ergänzt durch Collagen von Rango Bohne, Beckers Ehefrau. Man kann es ein Korrespondenz-Buch nennen. Becker schätzt die Impulse, die aus Bohnes visueller Arbeit kommen. In ihren Bildern entstehe ein unmittelbarer, authentischer Ausdruck, der nichts mit der vorgefunden Bilderwelt zu tun habe, „vergleichbar mit meinem Arbeiten“, so teilt Becker dem Neuen Evangelischen Kirchenverband Köln kürzlich im Gespräch mit anlässlich einer Lesung und Ausstellung in der Trinitatiskirche.

 "weiße Flächen berühren den Waldrand / dahinter beginnt wavon man nichts weiß / unbestimmt bleibt auch die Himmelsrichtung / die Herkunft dessen was ankommen wird / spät vielleicht plötzlich / es kann still bleiben wie nie zuvor // (was und wann)"

Dass es den Wert der Natur gibt. Einer unzerstörten Natur. Klar zu spüren in den Gedichten von "Scheunen im Gelände". Aber auch, dass dies wenig selbstverständlich sein kann und ist, dass man möglichst präzise darauf aufmerksam machen muss. Auch dass diese Naturerfahrung eine Grenzerfahrung ist oder werden kann in Gefährdetem. In gefährdetem Terrain und Leben, das angreifbar ist und angegriffen ist. So wirken auch die Collagen von Rango Bohne, die mit den Gedichten korrespondieren. Bilder, die Naturstücke sind. Realismus, in dem man dann aber verschobene Teilstücke wahrnimmt. Nicht zusammenstimmende Kanten, plötzliche, leichte oder starke Farbbrüche. Gerade noch im Stimmigen. Aber eben keine Spur romantisch. Sondern poetisch gebrochen. Ohne Brüche ist auch bei Becker nichts. Manche Figuren in den Gedichten leben damit, manchen gelingt dies nicht. Menschen, in deren Natur etwas eingedrungen ist, das bis an die Grenzen des Ertragbaren strapaziert. Auch bis zu einem worst case, wie etwa Krieg und danach ganz am Leben scheitern. Oder in der Kunst mit allem umgehen.

 "Nach ihrer Zeit mit den Surrealisten / ging Lee Miller als Kriegsphotografin / für Vogue an die Front. Sie ließ sich / in München photografieren, als sie / in Hitlers Badewanne ein Bad nahm, / kurz nach ihrem Besuch in Dachau. // (History)"

Ironisch Gebrochenes meint Becker nicht. Kein "naturgemäß" in einem Thomas Bernhardschen Sinn. Sondern Klarheit, Ruhe, Reinheit, in der der Mensch noch natürlich oder ungeblendet eine Chance haben sollte. Sollte. Denn Beckers Gedichte handel davon, dass eben genau dies nicht selbstverständlich ist oder unmöglich.

 "Der Waldrand steht still. / Still liegen die Felder. / So sieht es aus. / So kann man es sagen. // (Eine Zeit ohne Skrupel)"

 "Der rasanten Veränderung der Welt hält Becker trotzig sein stilles Bild der Welt entgegen", ergänzt Krüger.

Jürgen Becker: Scheunen im Gelände, Mit Collagen von Rango Bohne und einem Nachwort von Michael Krüger, Lyrik Kabinett, München, 2012

www.juergen-becker.com
 
 veröffentlicht: www.aurora-magazin.at