Tuesday, October 23, 2012



Diminishing length of light - kammermusikalische Stimmungen von Jessica Pavone und dem Toomai String Quintet

Saiteninstrumentalistin und Komponistin Jessica Pavone formiert die Bands Army of Strangers und The Pavones und spielte bereits mit Ensembles von Anthony Braxton und Henry Threadgill, um nur zwei von weiteren zu nennen, und ist in diversen musikalischen Kollektiven.
Pavone hat mit "Hope Dawson Is Missing" einen Songzyklus veröffentlicht, der sich mit Zerstörung und Wiederaufbau, Migration, Falschheit, Irrtum, Unrichtigkeit und unstrittigen Wahrheiten befasst. Dieses kammermusikalsche Projekt von Pavone mit dem Toomai String Quintet in Besetzung Violine, Viola, Cello, Kontrabass vertärken Perkussionist Tomas Fujiwara, Vocals von Emily Manzo und Gitarristin Mary Halvorson. Trotzdem hat dieses acht Kapitel umfassende Werk eine etwas übergewichtig wirkende lyrische Schwere in Kombination mit immer wieder süßlich anmutendem Gesang. Mehr Dominanz der oft kantigeren Jazzgitarristin Mary Halvorson könnte sein, denke ich. Und dann aber weiter : Das Hören von "Hope Dawson Is Missing" sollte vielleicht zelebriert werden wie eine Séance bei Kerzenlicht um die Möglichkeit von etwas Übersinnlichem heraufzubeschwören: Darf man an Geister und Nachrichten von Anderswo glauben? Welch Schemenhaftes findet sich in Trance? Dann kann die CD zum Hörgenuss umfunktioniert werden. Kann Wirkung entfalten. Aber nur kann. Wie parapsychologisch Experimentelles. Wie merkwürdig Sakrales gegen allzu Profanes. Wie beargwohnt Geheimes gegen ständig allgegenwärtiges Gelaber. Seichte Esoterik ist die CD jedenfalls nicht.

 "Dawn to dark / increasing length / of night / dawn to dark / diminishing length of light"

 Jessica Pavone
 "Hope Dawson Is Missing"
 (Tzadik)

www.jessicapavone.com
www.toomaiquintet.com
www.maryhalvorson.com


veröffentlicht: www.culturmag.de

Friday, October 19, 2012

Aktuelle Aktivitäten der einstmaligen Velvet Underground-Musiker Lou Reed und John Cale - Kein dritter Mann

"From VU to Lulu" ist jüngster Tourtitel von Lou Reed. Das Konzert im Zelt von Tollwood München am 01.07.2012 ist als passabler Live-Event nennbar. Genau genommen als exzellente Präsenz einer Underground-Ikone der 60er. Reed ist immerhin ein bereits 70-jähriger. Der im jugendlich-sportlichen Muskelshirt mit seiner Gitarre auf der Bühne steht und vor innerer Kraft zu strotzen scheint. In Verdoppelung mitten im Raum auch auf einer Leinwandprojektion nochmal beobachtbar. Reed weiß jedenfalls sehr genau was er tut. Darauf ist immer ganz klar Verlass. Man darf nur nicht anfangen zu fragen wozu.

Lou Reed brachte bei dieser Tour - und so auch in München - Material auf die Bühne von früheren Velvet Underground-Alben, Songs wie "Waitng For The Man", "Beginning To See The Light" über darauf folgende Soloplatten mit Stücken wie "Senselessly Cruel", "Street Hassle" bis zu seiner zuletzt veröffentlichten, mit Metallica eingespielten CD "Songs For Lulu", Lieder wie "Brandenburg Gate".

Reed mit Band spielte in folgener Besetzung: Lou Reed - Guitar / Aram Bajakian - Guitar / Anthony Diodore - Guitar / Kevin Hearn - Keys/ Robert Wasserman - Bass / Anthony Smith - Drums / Ulrich Krieger - Saxophone / Louis Calhoun - Keys

Immer wieder heißt es gern, Reeds Spielen bei seinen Auftritten sei gehämmert, Dröhnung, störrischer Krach. Und die aktuelle CD "Songs For Lulu" kriegte kürzlich zuhauf schlechte Kritik. Ist jedoch eher als starke Zusammenarbeit anhörbar.
Beim "From VU to Lulu"-Konzert dehnt Reed manche Songs regelrecht ausufernd aus, schwelgt einerseits in Stoff der Vergangenheit und ist dann wieder wie sich in aktuellem Heavy-Metal betäubend. Aber er ist dabei nie auch nur eine Spur pathetisch. Reed, das ist jedenfalls kompromisslos Rock'n'Roll, der sich nicht anbiedert und der rohe, straighte Energie abgibt. Reed hat dabei etwas Stoisches. Wer's nicht will, kann wegbleiben.

 "...But now, a time has come to lay to waste / The theory people have of / getting an acquired taste / You treated me - / Oh, so, so senselessly cruel..." aus "Senselessly Cruel" von der LP "Rock and Roll Heart", Lou Reeds 7. Album, veröffentlicht im Jahr 1976".

 John Cale - "He's seen it all before" ("Macbeth" aus "Paris 1919")

Konzerte und CDs von John Cale, auch er schon 70 Jahre alt, sind nach der exzellenten, vielversprechenden CD "Black Acetate", 2005 erschienen, nicht mehr immer von wirklich entscheidender Relevanz. Beispielsweise die diesjährige teils nur uninspiriert wirkende "Shifty Adventures In Nookie Wood". Ins Konzert im Oktober 2012 ging ich nicht.

Nennenswert jedenfalls sein derzeitiges Projekt "When Past & Future Collide: Paris 1919 Live". John Cale damals und heute und ein gutes Maß an Perfektion

"You're having tea with Graham Greene / In a colored costume of your choice / And you'll be held in high esteem / If you're seen in between..." ("Graham Green" aus "Paris 1919")

John Cale bringt seit einiger Zeit immer wieder sein "When Past & Future Collide: Paris 1919" auf die Bühne. So auch am 06.10.11 in Essen bei der Ruhrtriennale. Im Januar 2013 wird es in New York erneut performt.

In Essen in der Lichtburg, einem Kinosaal, konnte ich beobachten mit welcher Perfektion das bereits bekannte musikalische Konzept "Paris 1919" unter sehr sicherem Dirigat von Harry Curtis mit den Bochumer Symphonikern umgesetzt wurde. Da dieses Orchester weiß, was es tut, bestand für Cale kein Risiko. Dass man "Paris 1919", jenes zwielichtig-melancholisch-literarisch-orchestrale Album aus dem Jahr 1973, damals u.a. mit Bandmitgliedern von Little Feat eingespielt, musikalisch in eine neue, extremere Dimension weiterentwickeln könnte, - könnte, denn getan wurde dies nicht - ist natürlich, wem Neue Musik vertraut ist, klar und eine andere Sache. Es muß nicht zwingend vorgenommen werden, doch sollte wohl einmal.

Die Welt von Dandys, Movie Queens, Literaten und Bohemians von"Paris 1919" ist wie ein reichhaltiger Pool poetischer Energie, der immer noch immense Mitteilkraft spüren lässt und über die Jahre nichts an Aussagekraft eingebüst hat. Es ließe sich daraus zitieren und zitieren. Hier dies: "Nothing frightens me more/ Than religion at my door" aus "Hanky Panky Nohow".

Auf der Bühne mit dem Orchester und Cale, dieser anzugtragend-seriös, an seinem Piano und akustischer und elektrischer Gitarre außerdem die Band bestehend aus Gitarrist Dustin Boyer, Schlagzeuger Michael Jerome und gerade dazugekommenem Bassist Joey Maramba. Die Band präsentierte sich, vermutlich nicht nur in Essen, erfreulich um einiges präziser als bisher. Was beim zweiten Song-Set des Abends nach dem ersten Teil "Paris 1919" vor allem auch einigen Stücken aus der 2011 herausgebrachten CD "Extra Playful" zugute kam. Die Konfrontation des frühen Songmaterials mit frischem war ein spannungsgeladenes aneinandergeraten von düsterschimmernd-surrealer Neo-Romantiktiefe mit Orchester und oberflächlich hell-profanem Rockbandsound. Auf der CD "Extra Playful" hört man drum loops, electronic elements, vocoder effects. Und Cale war mit dieser Veröffentlichung immerhin endlich auch raus aus seiner für mich mehr als fraglichen vorhergehenden "Circus"-Phase.

(Die beiden weitern Mitglieder von Velvet Underground: Sterling Morrison lebt seit 1995 nicht mehr. Ich begegnete ihm nie. Moe Tucker sah ich einmal und nie wieder in den 90ern live auf der Bühne. In Erinnerung blieb mir insbesondere wie sie bei "Hey, Mr. Rain" auf Schlagfell drischt. Auch Nico gehörte einige Zeit dazu. Ich sah sie einmal nach ihrer Zeit mit VU. Sie spielte Harmonium und sang und war dabei außer Form, aber alle hörten ihr trotzdem zu. Ich auch.)

www.loureed.com
www.john-cale.com
www.harrycurtis.com
www.bochumer-symphoniker.de
Lou Reed hat derzeit eine Ausstellung mit Fotografien in Deutschland. Ein Interview dazu: Lou Reed-Interview
veröffentlicht: www.culturmag.de