Sunday, July 02, 2006

München Opernfestspiel+

Am 30.06.06 will ich an der Abendkasse der Oper eine Karte für den nächsten Tag "Schwarz auf Weiß"/Heiner Goebbels/Ensemble Modern kaufen. Ich gehe über den Max-Joseph-Platz und wundere mich über eine kleine, hübsche theatralische Szene: Ein kaum zweijähriges, blasses Mädchen trägt einen großen, alten Lederkoffer. In Begleitung eine rot gekleidete, blasse Frau. Ich lächle amüsiert. Gehe weiter und sehe einen Orchestermusiker im Anzug dastehen, Posaune in der Hand. Er lächelt. Blickt Richtung Opernhaus. Ich blicke auch Richtung Opernhaus, denn da will ich hin um das Ticket zu kaufen. Auf dem Platz und auf der Eingangstreppe wartet eine Menschengruppe auf den Beginn einer Vorstellung. Ich kaufe an der Abendkasse das Ticket für "Schwarz auf Weiß" und beim Weggehen denke ich: Theaterpublikum, vom unter der Armutsgrenze lebenden Jobber bis zum Bestverdiener der Managerklasse. Turnschuhe, Jeans, T-Shirt neben teurem blaßlila Abendkleid oder Fliege. Ich wende mich um, nochmal ein Blick auf die Menschenansammlung und nun steht der Posaunist auf dem Giebelfirst der Staatsoper . Etwas irritiert achte ich auf die Akustik seines Spiels im Freien und realisiere jetzt, als eine Frau an den Rand des Dachfirstes tritt, daß ich Zuschauer einer Theateraufführung bin. Ich lehne mich an einen Steinpfosten. Es ist ein heißer Vorsommerabend zum Genießen. Die Frau oben auf der Staatsoper steht ganz am Rande des Abgrunds. So sieht jemand aus der springen will. Dann wird in Zeitlupe als Beginn dieser künstlerisch-artistischen Aufführung die Bewegung des Abspringens gezeigt bis die Frau kopfüber in den Abgrund hängt. Idyllischer Abend, nett unvermutet solche Bilder zu sehen. Die Artistin zeigt eine Choreografie auf einem Minitrapez vor dem Figurenrelief im Giebeldreieck der Nationaltheaterfront, die nach dem zweiten Wiederaufbau 1959 genau dem Entwurf von 1811 des Architekten Karl von Fischer entspricht. Ein geturnter moderner Tanz in freier Höhe. Bewegungsfiguren in der Luft vor historischer Figurengruppe in Steinwand. Gegenwärtig Artifizielles vor geschichtlichem Hintergrund. Abgesichertes Tun und gefährlich harte Kante zugleich. Als die Dame auf halber Höhe aus ihrem Trapez in zwei rote Bänder klettert, gleitet, sich versteckend, umwickelnd und windend und eine rotglitzernde Konfettiwolke in der Abendsonne flirrt will ich soviel Opern-Tanzakrobatik-Zirkus-Schnickschnack nun doch nicht haben und gehe mit dem Ticket für "Schwarz auf Weiß" .
Zuhause lese ich im Programm, daß ich in "Live Sculpture, Apokatastasis - ein öffentliches Geheimnis", oder zumindest in den Beginn davon, geraten bin. Vorgeführt vom Theater Vaivén aus Berlin. Sich tummelnde Geister und Traumschlingen, wie im Programm versprochen, sah ich nicht. Doch daß ich an der Schnittstelle zwischen Realität und Fantasie war, dort am Opernhauseingang, bestreite ich nicht. Mir öffnete sich einen Moment ein Blick vom Progressiven über's Konservative durch's Reaktionäre in einen erschreckenden Raum vom freien Fall im Zwischenraum von Realität und Fantasie.
Und daß die Posaune den Ruf des Orpheus vom Dach schickte mag ich wirklich glauben. Der Gedanke gefällt mir "im Kreuzfeuer des Alltags".

-über die poetische Welt des Theater Vaivén: http://www.vaiven.de/home
und Kontext: www.bayerische.staatsoper.de