Monday, June 16, 2008

Phonola für »Study No. 41« von Conlon Nancarrow bei der Musica Viva
Foto: Tina Karolina Stauner, 2008

Experiment und Avantgarde / Musica Viva 2008, München

Experiment und Avantgarde...1913 veröffentlichte Luigi Russolo das Manifest »L'arte dei rumori«/»Die Kunst der Geräusche«. 1972 hielt Karlheinz Stockhausen den Vortrag »Die vier Krieterien der Elektronischen Musik« in dem als viertes Kriterium »Die Gleichberechtigung von Ton und Geräusch« genannt wird. Dies nur kurz zur Orientierung, Man sollte wissen wann das Terrain definiert und abgesteckt wurde. Denn das sind nicht so leicht wirklich neue Wege, die in der E-Musik (und auch der U-Musik) noch gegangen werden können. Aber es geht um die eigenen Wege, die findbar sind. Wo im Jahr 2008 solche Pfade, Stege, Spuren sind, zeigt mein Blick auf das Musica Viva Festival, das Anfang diesen Jahres an vier Wochenenden in München stattfand. Die Musica Viva präsentiert Exponenten der Neuen Musik und auch verkannte Außenseiter. Von Grenzüberschreitungen war seitens des künstlerischen Leiters Udo Zimmermann die Rede. Von Baustelle und Großlabor des musikalischen Fortschritts. Und es fiel das Wort Kulturpolitik. Bei einem Wochendsymposium, das unter dem Motto »Kunst und Experiment« stand, gab es ergänzend auch viel Theorie, also Denkstoff.
Hier einige Anhaltspunkte:

Karlheinz Stockhausen

Karlheinz Stockhausens Stück »Mixtur 2003« (2003), eine Neubearbeitung einer Komposition aus dem Jahr 1964, spielte sich als Klangereignis ab mit Extremen in der Dynamik im Spektrum von Passagen leisestem Zurückgenommenseins, bei denen kaum mehr als ein Knistern, ein fragiles Klimpern wahrnehmbar blieb und Parts, in denen die ganze Wucht eines Orchesters wie das Zerbersten einer Glasfront wirkte. Das Stück für fünf Instrumentalgruppen, vier Sinusgenerator-Spieler, vier Klangmischer mit vier Ringmodulatoren und Klangregisseur hatte eine extreme Sogwirkung in sein breites Klangspektrum.
Als Einschub vor dem zweiten Teil der Partitur der kurze »Gesang der Jünglinge« aus dem Jahr 1956 mit Klang von allen Seiten.
»...sich die klanglichen Qualitäten der menschlichen Stimme via Analyse und Synthese als kompositorisches Material verfügbar zu machen.« War auch wie Exotik von Menschenstimmen wie in einem riesigen Terrarium, als das ich mir die Welt dabei auf einmal vorstellte. Bevor die Rückwärstversion der Partitur, also die Teile 1 - 20 von »Mixtur 2003« in umgekehrter Reihenfolge, erklangen: »...erlebe ich es wie die Fahrt nach dem körperlichen Tod: weißes Hohes C - Pizzicato-Spieler transparent alternierend - Schichten von Klangskelett in Ton-Hagelsträhnen - Dialog zwischen Schreischüssen und Bronzeschlägen - und so weiter: rückwärts in die verträumte Erinnerung...«, so Stockhausens eigene Worte. Fast beängstigend und gespenstisch die Stimmung, die sich entfaltete, in deren irritierende Dynamik ich mich nicht ziehen lassen wollte. Ich ließ nun vorbeigleiten und nahm mit beobachtendem Abstand wahr.
Die Aufführung von »Mixtur 2003« war schon deshalb etwas Besonderes, da sie als eine Art musikalisches Vermächtnis Stockhausens gesehen werden kann.

Conlon Nancarrow

Es ist immer wieder spannend wie sich inmitten zeitgenössischer Musik »Studies For Player Piano« von Conlon Nancarrow behaupten können. Wie als eine Art Parallelschiene, die die Erinnerung in der Gegenwart ist. Stücke gespielt auf historischen Instrumenten: In Papierrollen gestanzte Partituren, Lochstreifen, steuern Selbstspielklaviere. Nichts ist mit den Arpeggien und Glissandi von Player Pianos, die mit den Händen auf Tasten nicht gespielt werden könnten, vergleichbar. Bei »Study No. 41« (1981) für zwei Phonolas, spezielle Player Pianos mit Spielern, die die Geschwindigkeit und Lautstärke über Fußpedale mit Saugluft regeln, entstanden spannungsreiche, irrationale Temporelationen dadurch, daß sich nach den zwei Teilen mit Solointerpretationen im dritten Teil die zwei Spieler gleichzeitig aufeinander einzustellen hatten auf ihren Phonolas, die, da keine high-tech-Maschinen, nicht exakt synchronisierbar sind.

Erwin Stache

Erwin Stache funktioniert in seinen Stücken alle möglichen und unmöglichen Gegenstände zu Musikinstrumenten um. Viel Spielerei und nicht immer Substanz. Aber wirklich merkwürdig faszinierend seine Licht- und Klanginstallation »Bewegungen - Momente« (2007) mit Saitenkästenmatrix, Murmelzither, elektromechanischen Röhrenwasserobjekten und Waschmaschinenprogramm-
scheibenorchester. Auf dem Holzmosaikboden im Zentrum eines Zimmers ein Rechteck aus aneinandergestellten Kommodenschubfächern, jede mit einer Saite bespannt, die mit Elektromotor zum Schwingen und zum Erklingen gebracht werden konnte während zugleich ein Lämpchen aufleuchtete. Manchmal waren Klangmuster aus einzelnen, manchmal mehreren Schubfachinstrumenten hörbar und mit aufblitzenden Lichtern dazu, manchmal entstand ein dichtes Klang- und Lichtfeld. Dazu entlang der Wände aufgestellte Metallstangen mit sich drehenden Waschmaschinenprogrammscheiben daran, die ein klickendes Geräusch verursachten. Das Ganze einerseits zwar nur amüsiert ansehend ließ ich mich jedoch in dem dunklen Raum und dem Geräusch- und Tonfeld für einige Zeit aus der Realität in einen regelrecht meditativen Gedankenraum und darin in freie Assoziation driften. Gelang perfekt.

Persische Trommler und Gesänge der Sufis aus Oberägypten

Die Persischen Trommler Trio Chemirani und die Gesänge der Sufis von Ensemble Sheikh Ahmad Al Tuni, ein Publikumsmagnet, schufen eine mystische Insel, einer anachronistischen Idylle tranceartiger Rituale nahe. Konventioneller Faltenwurf als Bühnenrückwand und die Halle getaucht in lila- violettes Licht. An diesem kalten, grauen Vormittag war es wie spirituelle Kraft und Wärme tanken tief im Inneren. Doch hatte ich den Gedanken, das Stagedesign hätte den Raum kraß aufreißen müssen, um zu zeigen auf welchen eher unidyllischen Boden sich diese traditionellen Musikdarbietungen in unserem Land tatsächlich hineinwagen.

Gérard Pesson, Beat Furrer, Iannis Xenakis

In die Dramaturgie des Abends mit Kompositionen von Gérard Pesson, Beat Furrer und Iannis Xenakis einzutauchen, machte mir wieder einmal klar, daß man die Wirkung von Orchestermusik bestens für sich einsetzen kann um seine Stimmung zu beeinflussen.
Gérard Pessons »Aggravations et Final« (2002) für Orchester mit Tönen wie hingehaucht und Fragmentarisches hingegezupft und hingeklopft, mit viel Gespür für Freiraum von Pausen und kaum Wahrnehmbarem und immer wieder nur der Ansatz von Melodien im Klangmeer, das auch aufwühlend werden konnte.
Beat Furrers Konzert für Klavier und Orchester (2007) war wie Unruhe pur, die langsam nachlassend sich dann doch wieder steigerte. Extreme Spannung vermittelte welch verquere Räume wie architektonische Gliederung entstanden zwischen den Klavierparts und dem gesamten Orchester.
Iannis Xenakis »Antikhthon« (1971) für Orchester wirkte regelrecht aufreibend und treibend. Klang von Saiteninstrumenten, der direkt und bis zu agressiv und wie gezielt auf's Nervensystem ging mit einer Dosis und Substanz, wie sie kaum etwas anderes als ein exzellentes Orchester vermitteln kann.

Adriana Hölszky, Michael Lentz und Uli Winters

Amüsant, bizarr, grotesk, aberwitzig, wie der Protagonist im szenischen Stück »Countdown« (2007) von Adriana Hölszky nach Texten eines Obdachlosen für Countertenor, acht Alphörner, vier Trompeten, vier Posaunen, vier Konzertflügel und acht Schlagzeuger in der Raummitte alleine auf einer Bühne sich vokal eine autonome Welt schuf. 20 Instrumentalisten getrennt davon außen herum an den Raumwänden verteilt, nicht mit dem Countertenor kommunizierend. Das führte mich zu der Frage: Welch abstruse Gedankenwelt also mag sich im ruinierten Leben von obdachlosen Alkoholikern oftmals wirklich abspielen? Lächerlich, absurd und faszinierend skurril und wie die Verzweiflung selbst. Hölszky bedeutete die musikalische Antwort einiges, wie sie dann beim Applaus offen auf der Bühne zeigte.
Und ich stellte mir am selben Abend noch die Frage, ob das Stück »Boxgesang über 12 Runden« (2006/07) für einen Boxer, klingende Boxsäcke, Piccoloflöten, Bassklarinetten, E-Gitarre, Schlagzeuger, Subwoofer, einen Beatboxer und zwei Sprecher, von Michael Lentz und Uli Winters in irgendeiner Weise weiterführte: Schauspieler auf einen Boxsack eindreschend. Schläge, Schritte, Atem hörbar, Sprachkommentare, im musikalischen Ensemble eine sauberer Rockgitarre. Wirkte auf mich nur wie eine einfache musikalische Trainingsrunde.

Bernhard Lang, Karl Amadeus Hartmann, Giacinto Scelsi

An der Kombination von Kompositionen von Bernhard Lang, Karl Amadeus Hartmann und Giacinto Scelsi war für mich erst einmal das 70 Jahre alte Stück von Hartmann (im Jahr 1945 Musica Viva-Gründer) nicht nachvollziehbar.
Doch dann beim Hören von »Symphonie L'Oeuvre« (1937/38) von Hartmann und Erleben wieviel tiefe Bitterkeit ohne kitschiges Pathos im Ton von Schönheit sein kann bekam das Ganze zeitlose Qualität. Der Ton seiner Musik als Widerstand unter extremen Bedingungen. Selbsreflexion in düsterer politischer Lage in entfremdeter Zeit.
Giacinto Scelis »Uaxuctum« (1966) für sieben Schlagzeuger, Pauker, Chor und Orchester, Untergangsepos nennbar, das rituelle Handlungen von der Selbsthypnose bis zu psychedelischen Zuständen spiegeln soll, mit seiner eigenartigen, fast verstörenden Dynamik besonders der Chorstimmen, kann es schaffen eine böse, unbestimmte Angst aufzurühren, wovor ich plötzlich regelrecht meinte zurückweichen zu wollen. Und wäre es weit ins lebenslange Außenseitertum wie Scelsi. »...Klang«, so seine Überzeugung, »sprengt die Dimension von Raum und Zeit...« Ja, Klänge, die im Innern etwas aufbrechen und weiter in unbekannte Dimensionen führen können.
Mit das stärkste des Festivals war das erste Stück dieses Abends »Monadologie I« (2007) für E-Zither und Orchester. Daß klar Meditatives und absolute Härte in einem Stück in einem Paradoxon vereint sein und wirken können machte dessen Faszination und absolute Stärke aus.

Dieter Schnebel, Peter Ablinger

Beim Symposium war wirklich interessant den fast 80ig-jährigen Dieter Schnebel, dessen aktuelle Oper »Majakowskis Tod«
im vergangenen Jahrzehnt von zwei Bühnen inszeniert wurde, die Geschichte der experimentellen Musik vortragen zu hören, besonders für die, die damals in den 50er bis 70er Jahren nicht dabei waren wurden hier noch einmal Schlaglichter auf zentrale Prozesse der Ereignisse geworfen. Und von allen Symposiumteilnehmern nennen will ich noch Peter Ablinger. Ihm zuzuhören bedeutete auch, mich auf seinen vom Band eingespielten Track »Weißes Rauschen« einzulassen, das wie brachlag für meine sich dabei einstellenden Gedanken und durch Ablinger der Frage nachzugehen, ob wir das Neue oder Erneuerung brauchen. Im Infoheft zum Symposium steht zum Vortrag von Peter Ablinger nur der Satz: »Würde die Wirklichkeit an unser Bewußtsein rühren, so wäre die Kunst überflüssig.« (Bergson, »Das Lachen«)

Veranstaltungen der Musica Viva finden regelmäßig in München statt.

musica viva
veröffentlicht: www.skug.at