Friday, March 28, 2008



»Lucie & Maintenant« - Journal Nomade

Unmittelbares Erleben zwischen Aufbruch und Ankommen

Nach ihrem bislang bekanntesten Film »Step Across The Border« (1990, u.a. mit Fred Frith) führen Nicolas Humbert und Werner Penzel wieder filmisches Experiment und freie Improvisation ineinander.


Inspiriert von der literarischen Vorlage »Die Autonauten auf der Kosmobahn« von Julio Cortázar und Carol Dunlop begeben sich die Filmemacher mit dem Künstlerpaar Océane Madelaine und Jocelyn Bonnerave auf die autoroute du soleil. Die Reise von Paris nach Marseille, als Versuchsanordnung, damals 1982 ursprünglich mit der Spielregel versehen, 33 Tage nur auf der Autobahn und auf Raststätten zu leben. Das bedeutet für die jetzige Zeit auch, sich in der Tradition der Roadmovies zu bewegen.
Filmeinstieg von »Lucie et Maintenant« mit kurzen Schnitten – Zeichen, Farben, Strukturen, Licht, Schatten, Rhythmus. Ein Spiel auf formaler Ebene. Die Schnitte bleiben kontrastreich. Beobachtungen von Straßen- und Parkplatzszenen. Die Kamera auf den Spuren des Flüchtigen, des Ungreifbaren. Die Autobahn als Klangteppich. Momentaufnahmen an unwirtlichen Durchgangsorten und Zwischenräumen im Transitraum. Metamorphosen der Nomadologie. Stilleben und Porträts in gemeiner Rastplatzatmosphäre. Einfachheit wie ein bunter Feldblumenstrauß, ein heißer Automatenkaffee oder ein herumliegendes Buch beginnt man als edle Dinge wahrzunehmen. Und beim Campieren mit dem Auto erscheint der Mikrokosmos des Liebespaares wie ein Inbegriff an Lebensgenuss ungebrochener, bewusster Wahrnehmung bei unzerstörbarer Idylle. »Wächter der offenen Räume«, ein poetischer Gedanke, der auftaucht – »auf den Spuren ihrer Inspiratoren und gleichzeitig auf der Suche nach dem Hier und Jetzt.«, so Nicolas Humbert.
Madelaine schreibt nebenbei Tagebuch und liest daraus vor. Ihre Gesichtszüge sind dabei in Nahaufnahme analysierbar. Leben und Literatur wirken wie direkt ineinandergespiegelt, wie eine produktive Einheit. Worte und Schriftkultur erhalten einen überbetont hohen Wert. Der Philosoph Vilém Flusser wird ins Spiel gebracht, der die heutige Gesellschaft auf einem Weg in eine nachalphabetische Phase der nulldimensionalen technischen Bilder sieht, bei der die Texte ihre Funktion verlieren.
Und als Gedanke von ihm wird erwähnt: »Unsere Wohnung ist die Weltmitte, der Verkehr zwischen Wohnung und Welt ist das Leben ...«. Es geht um unmittelbares Erleben zwischen Aufbruch und Ankommen. Und Linien ziehen und nicht Punkte setzen. Somit wird auch Gilles Deleuze zitiert. Parallelen zum Ausnahmezustand der Zeit auf der Autobahn sind visualisierbar und Wege darüber hinaus. Und das Schreiben, die Literatur wird gleichbedeutend mit Unterwegsein ins Bewusstsein gebracht.

»Lucie & Maintenant« (CH/F 2007, R: Nicolas Humbert, Werner Penzel, Simone Fürbringer, Balzli & Fahrer Filmproduktion, Bern)

website von Nicolas Humbert und Werner Penzel: www.cinenomad.de

www.skug.at
(SKUG 74 (print), 4-6/08)
Joe Lally
»Nothing Is Underrated«

(Dischord)

Ein dunkles Cover mit Joe Lally's wenig erkennbaren, verschlossenen Gesichtszügen, auch sein Name und der CD-Titel
»Nothing Is Underrated« in dunklen Buchstaben auf dunklem Grund kaum zu sehen, nur das weiß geschriebene, herausstechende Wort nothing sofort lesbar. Um nun gleich auf einen Song hinzuweisen, bei dem jeder Satz mit I'm not beginnt: »...I am not defined by terms of belief...I am not a profile based on statistics.« (»Mistaken Identity«). Sich Verweigerung leisten: »...I have no address the place I am living one step up from death...« (»Motora«). Aber auch die Fähigkeit zu Klarsicht und Entschlossenheit: »Painfully aware something's wrong I know I don't belong years on years nothing's changed my resolve remains« (»Painfully Aware«). Aus Verneinung heraus entsteht eine eigene Haltung voll ungemein positiver, unkorrumpierter Kraft. Joe Lally's sprödes Songwriting, eher sparsam instrumentiert, mit perfekten Arrangements, paßt sich keinem Trend an, ist kompromißloser Ausdruck von Persönlichkeit und Meinung. Bei dem Fugazi-Bassisten spürt man die Wurzeln im Post-Core. Obwohl die Songs Folk sind. Aber eher mit Changes und Dynamik wie im Math-Rock. Und oft mit jazzigem Touch. Lally's zweite Solo-CD besticht durch dominierende, schöne Basslinien und
-figuren, prägender, einfacher Schlagzeugarbeit, eckigen, dissonanten Gitarrenmelodien und manchmal atmosphärischen Keybordebenen. Zu diversen Mitmusikern gehörten auch Ian MacKaye und Guy Picciotto von Fugazi.

Bob Mould
»District Line«

(Beggars)

Bob Mould, ehemals Hüsker Dü und Sugar, ist auch, dies auf seine sehr gitarrenlastig rockige Weise, in die derzeitige neue Leichtigkeit im Songwriting geraten. »District Line« sei seine Art gewesen »etwas in ein Tagebuch zu schreiben«, sagt er. Ja, Notizen wie nebenbei. Zwar manches mitteilenswert gelungen, aber so manches auch unspektakulär belanglos. Er spricht von den vergangenen Jahren als »sehr positive Erfahrung«. Umgesetzt dann also zu etwas mit eingängigem Pop-Appeal, wenngleich reflektiert: »...the slow romantic decay....« (»Shelter Me«), durch Amy Domingues' Cellomelodien in einigen Songs verfeinert und kantig durch die Drums von Brendan Canty von Fugazi.

www.skug.at
(SKUG 74 (print), 4-6/08)
("Venus at the Forge of Vulcan" by Jan Breughel the Younger)

Elliott Sharp's Terraplane
»Forgery«

(Intuition)

Terraplane ist eines der diversen Bandprojekte von Avantgarde-Downtown-NYC-Größe Elliott Sharp. Derzeit mit schnörkellosem,
urbanen Blues mit Free Jazz-Elementen. Auch futuristic Guerrilla Blues genannt. Sharp besann sich als Basis für das neue Album »Forgery« auf eine alte Weisheit des R&B und läßt Wirkung beruhend auf einer funky Rhythmusgruppe (David Hofstra: Bass, Tony Lewis: Drums) und einer jazzy Horn Section (Curtis Fowlkes: Posaune, Alex Harding: Baritonsaxophone) entstehen. So gelingt es Terraplane geballte Energie freizusetzten, die zusammen mit Gitarre, Steel Guitar und Tenorsaxophon von Sharp und der emotinalen Stimme von Eric Mingus zu einer immensen Kraft wird. In einem Spektrum von merkwürdig beunruhigender Stimmung, die aktuelle Situation nach nine-eleven widerspiegelnd - »War Between The States«, bis zu einem dem alten, warmen Blues nahen Feeling - »How Much Longer Blues«. »Katrina Blues« über New Orleans bekommt durch den Gesang von Poetin Tracie Morris eine besondere Atmosphäre. Der CD-Titel »Forgery« bezieht sich auf den derzeitigen Zustand von New York, »jener Stadt, die immer noch vorgibt, der Puls der Welt zu sein, aber in Wirklichkeit längst zu einem Museum ihrer selbst verkommen ist.« - »...Von dem New York, das ich einst liebte, ist nichts mehr übrig.«, wird Sharp im Label-Info zitiert. Und in dieser Lebenssituation entstanden Aussagen über Politisches und Zwischenmenschliches - auf dem Cover teilt er mit: »...to move or advance against strong resistance...«.

www.elliottsharp.com

www.skug.at
(SKUG 74 (print), 4-6/08)